Jugendtechnikschulen als exzellente außerschulische Lernorte
Im Lexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins, das wichtige Ereignisse und Begebenheiten im Leben Berlins seit dessen erster urkundlicher Erwähnung im Jahre 1244 chronologisch festhält, ist unter dem Datum 19. Juni 1998 folgender Eintrag verzeichnet:
Schulsenatorin Ingrid Stahmer eröffnet in den Räumen des FEZ in der Wuhlheide (Köpenick) die erste Jugendtechnikschule Deutschlands. Kinder und Jugendliche ab acht Jahre können sich hier mit den Grundlagen der Technik beschäftigen.
Die Geburtsstunde einer außerschulischen Bildungseinrichtung hatte geschlagen, die sich im Verlauf eines Vierteljahrhunderts einen guten Namen erworben und deren Ausstrahlung die Grenzen der Bundeshauptstadt längst überschritten hat.
Lernen mit Kopf, Herz und Hand
Die Gründerväter der JugendTechnikSchule um den heutigen Geschäftsführer der Technischen Freizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) gGmbH Thomas Hänsgen fühlten sich den Ideen von Johann Heinrich Pestalozzi verpflichtet, indem sie „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ zum konzeptionellen Leitmotiv ihres Projektes machten. Die Realisierung der damit verbundenen zukunftsweisenden Visionen schien unter den gegebenen Rahmenbedingungen – insbesondere der knapp bemessenen Finanzierung – zunächst kaum möglich. Außerdem gab es bei Verantwortungsträgern in Jugendhilfe und Schule Skepsis und ideologische Vorbehalte, denn das Konzept stützte sich auf Elemente, die im polytechnischen Unterricht der ehemaligen DDR verankert waren: Lernen in der Praxis für die Praxis – beim Umgang mit Lötkolben, Schraubendreher und Seitenschneider, Laubsäge und Bohrmaschine. Es bedurfte etlicher Stunden Überzeugungsarbeit, um diese Vorbehalte zu minimieren. Das plausibelste Argument lieferte dabei die „Arithmetik“: jährlich steigende Besucherströme, die nach Tausenden zählen. Außerdem gelang es relativ zügig, die Wirtschaft ins Boot zu holen, deren Vertreter – sicherlich nicht ganz uneigennützig – sehr deutlich erkannten, welches Potenzial in den innovativen Angeboten der JugendTechnikSchule steckt. Sie öffneten deshalb bereitwillig ihre Firmentüren für „Schnuppertermine“ und Praktikumseinsätze von Kursanten dieser außerschulischen Bildungseinrichtung.
Partner von Schule und Wirtschaft
Gemäß Projektkonzeption ermöglicht die JugendTechnikschule Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne und mit Behinderungen unabhängig von deren sozialer Herkunft einen barrierefreien und geschlechtsneutralen Zugang zu praxisbezogener technischer, naturwissenschaftlicher, mathematischer, und ökologischer Bildung. Breitenförderung wird durch unterrichtsergänzende Angebote – Workshops und Kurse – sowie spezielle Events (z. B. Beteiligung an kommunalen Ferienprogrammen), Begabtenförderung durch ein aufeinander aufbauendes Kurssystem im Freizeitbereich sowie Projekte für besonders interessierte Zielgruppen erreicht.
Die Angebote mit den Schwerpunktthemen Einführung in die Elektrotechnik/Elektronik, Wetter- und Klimakunde, Umweltschutz und Ressourceneffizienz, Bionik, Informations- und Kommunikationstechnik, Mediengestaltung sowie Robotik vermitteln ein umfassendes Spektrum an Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten.
Hierdurch werden der Erwerb von Erfahrungen und Kompetenzen bei der kritischen und verantwortungsbewussten Nutzung moderner Medien sowie die Erhöhung des Wissensstandes auf dem Gebiet der Mathematik, Naturwissenschaften und Technik gefördert. Nicht zuletzt wird eine nachhaltige Motivation für lebenslanges Lernen entwickelt, die im Zeitalter von Industrie 4.0 mehr denn je erforderlich ist.
Als Pendant und Ergänzung zum theoretisch ausgerichteten Schulwissen nimmt die Aneignung handwerklicher Fertigkeiten und Fähigkeiten in den Bildungsangeboten der JugendTechnikSchule einen herausragenden Stellenwert ein. Durch diese „Arbeitsteilung mit Schule“ wird im Rahmen der personellen und materiellen Möglichkeiten des Projektes aktiv dazu beigetragen, den Grad der Ausbildungsreife von Schülerinnen und Schülern spürbar zu erhöhen.
Das wird insbesondere von der regionalen Wirtschaft gewürdigt. Angesichts des gravierenden Fachkräftemangels im gewerblich-technischen Bereich und der von den Unternehmen in Permanenz beklagten mangelnden Ausbildungsreife von Schulabgänger*innen gilt es, dieses Defizit, das die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland beeinträchtigen kann, schnellstmöglich zu verringern. Um das zu erreichen, sind Schule und außerschulische Bildungseinrichtungen, Wirtschaft und Politik in einer konzertierten Aktion gefordert. Die JugendTechnikSchule steht hierfür mit ihrer täglichen Arbeit als kompetenter und leistungsfähiger Partner zur Verfügung.
„Exportschlager“ – Made in Berlin
Die Initiatoren hatten bei ihrem Projekt von Anfang an nicht nur Berlin im Blick. Warum sollte es – analog zu Jugendkunst- und Jugendmusikschulen – nicht in jeder größeren Stadt von Flensburg bis zum Bodensee auch eine Jugendtechnikschule geben? Das „Berliner Modell“ Jugendtechnikschule als Vorbild, Rat- und Ideengeber für Gründungen in anderen Bundesländern! Diese Idee war einfach zu bestechend, um nicht mit Leidenschaft und Sendungsbewusstsein propagiert und immer wieder ins Blickfeld von Verantwortungsträgern auf Bundes-, regionaler und kommunaler Ebene gerückt zu werden. Mit der Zeit stellten sich diesbezüglich Erfolge ein, die bescheiden anmuten mögen, aber trotzdem wegweisend sind.
Zwar kam es nicht zum angestrebten ganz großen Durchbruch, aber es entstanden weitere Jugendtechnikschulen – insbesondere im süddeutschen Raum.
Außer der Berliner JugendTechnikSchule, die im Stadtgebiet an zwei Standorten tätig ist, unterbreiten aktuell die Jugendtechnikschule „Dr. Karl Eisele“1 in Fellbach, die JugendTechnikSchule des JPCM e. V in München, die Jugendtechnikschule Taubertal2 in Bad Mergentheim, die jugend-technik-schule des Landkreises Freudenstadt3 und die Jugendtechnikschule der VHS Balingen4 interessante und vielfältige Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche im naturwissenschaftlich-technischen und mathematischen Bereich.
Die beiden erstgenannten wurden nach Konsultationen in Berlin gegründet, die zum Angebotsspektrum des Bundesmodellprojektes KON TE XIS – Konzepte der Technikarbeit in der Praxis verbreiten – gehörten, das über ein Jahrzehnt – von 1999 bis 2009 – durch Schulungen, Publikationen und Beratungsleistungen in nahezu allen Bundesländern erfolgreich dazu beigetragen hat, praxisorientierte technische und naturwissenschaftliche Bildung in Jugendhilfe, Kita und Schule zu verankern. Auch das heute bestens etablierte „Haus der kleinen Forscher“ hat in seinen Anfangszeiten den Kontakt zu KON TE XIS gesucht – und wurde zielführend und kompetent beraten.
Experimentieren – Forschen – Entdecken
Das Spektrum der Jugendtechnikschulen reicht von einfachen elektronischen Bastelarbeiten bis zur komplexen Programmierung von Computern und Robotern. In unterschiedlicher Trägerschaft und mit differenzierten Finanzierungsmodellen eint sie das Bestreben, Kindern und Jugendlichen die Faszination der MINT-Disziplinen nahezubringen und ihnen das Rüstzeug für eine gesicherte Perspektive in innovativen Berufsfeldern zu vermitteln. Die erfolgreiche Beteiligung an Wettbewerben wie „Schüler experimentieren“, „Jugend forscht“ , „Informatik-Biber“ und „First Lego League“ – um nur einige zu nennen – zeugt von dem hohen Niveau, das an diesen außerschulischen Lernorten geboten wird. Die hohe Attraktivität, die von den Jugendtechnikschulen ausgeht, beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, dass sie ohne den für die Pflichtschule typischen Leistungsdruck persönlichkeitsfördernde Erfolgserlebnisse für jedes Kind und jeden Jugendlichen ermöglichen. Hier können die Kursteilnehmer*innen nach Herzenslust experimentieren, forschen und entdecken, ihre Stärken herausfinden und entwickeln, ihre Schwächen minimieren und letztlich überwinden. Die uneingeschränkt positive – äußerst kreative – Atmosphäre stimuliert zu individuellen Höchstleistungen. Viele Kinder entdecken in der Jugendtechnikschule, was in ihnen steckt.
Und – vielleicht geht aus den Jugendtechnikschulen ja sogar der ein oder andere zukünftige Nobelpreisträger hervor? So ganz ausgeschlossen ist das nicht, denn auch überragende Wissenschaftler und Forscher haben einmal klein angefangen – und sie hatten in den seltensten Fällen so gute Startbedingungen, wie sie die Jugendtechnikschulen bieten. Nahezu alle betonen jedoch, dass ihre Interessen, die im Resultat zu ihren mit der höchsten Auszeichnung, die die Welt zu vergeben hat, gewürdigten wissenschaftlichen Spitzenleistungen geführt haben, in der Kindheit geweckt wurden.
Bildungseinrichtungen mit Wachstumspotential
Die Jugendtechnikschulen – und viele weitere Initiativen, die zwar andere Namen tragen, aber analoge Ziele verfolgen – sind sämtlich zu geschätzten und zuverlässigen Partnern der Pflichtschule geworden. Sie tragen in ihrem Wirkungsfeld dazu bei, die unerlässliche Vernetzung von schulischer und außerschulischer Bildungsarbeit herzustellen und zu verstetigen. Noch immer sind sie jedoch lediglich „Leuchttürme“, deren Strahlen nicht flächendeckend ganz Deutschland erfassen.
Aber sie sind da – und werden es aller Voraussicht auch bleiben –, trotz mancher finanziellen Unwägbarkeiten, die die inhaltliche Arbeit erschweren und von den Initiatoren und Mitarbeitern Geduld, Ausdauer, Stehvermögen und optimistische Zuversicht erfordert.
Da gute Beispiele „anstecken“ können, darf man gleichwohl darauf hoffen, dass zu den bestehenden Jugendtechnikschulen weitere hinzukommen werden – und zwar nicht nur in Deutschland.
So stößt das „Projekt Jugendtechnikschule“ z. B. auch in Österreich, der Schweiz und Italien – dort namentlich in Südtirol – auf lebhaftes Interesse. Kooperationsbeziehungen sind angebahnt und die Zukunft wird zeigen, ob sie sich mittel- und langfristig als tragfähig erweisen.
In dem Zusammenhang wird auch daran gedacht, Projekte auf EU-Ebene zu initiieren. Im Zeitalter der Globalisierung sollten diese zur unverzichtbaren Notwendigkeit werden, um Europas Stellung als Wissenschafts-, Technologie- und Wirtschaftsstandort zu erhalten und zielgerichtet zu entwickeln.
Kurs ZUKUNFT
Seit deren Gründung haben etwa 300 000 Kinder und Jugendliche an Kursen, Workshops und sonstigen Veranstaltungen der JugendTechnikSchule Berlin teilgenommen und sich zusätzliches Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen angeeignet, die für ihre Entwicklung von Relevanz sind. Der Zuspruch ist weiterhin außerordentlich hoch. Die beiden Standorte in Oberschöneweide und in Wilmersdorf sind hundertprozentig ausgelastet. Es gibt bereits etliche Voranmeldungen bis ins Jahr 2026.
Ganz ähnlich sieht es bei den anderen Jugendtechnikschulen aus. Diese Resonanz lässt sich nur erhalten, wenn man sich nicht auf vermeintlichen Lorbeeren ausruht, sondern „mit der Zeit geht“. Deshalb orientieren sich die kleinen, aber schlagkräftigen Teams der Jugendtechnikschulen am Stand von Wissenschaft und Technik, tüfteln an neuen Projekten, kreieren und realisieren innovative Ideen.
Dabei verlieren sie die Bedürfnisse, Wünsche – und Träume – der Zielgruppe nie aus den Augen.
Sämtliche Aktivitäten haben einen festen Bezug zur sich in einem kontinuierlichen Entwicklungs- und Wandlungsprozess befindlichen Lebens- und Erlebenswelt der Kinder und Jugendlichen.
Nicht zuletzt haben vielversprechende berufliche Karrieren im Besuch der Jugendtechnikschulen ihren Ausgangspunkt – eine Tatsache, die von Arbeitgebern und deren Verbänden mit wohlwollender Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen und durch punktuelle materielle bzw. finanzielle Unterstützung gewürdigt wird.
Angesichts dieser Fakten blicken die Betreiber der Jugendtechnikschulen und deren Mitarbeiter*innen mit Optimismus und Vertrauen in die Zukunft.
Gestützt auf die Tragfähigkeit der soliden Fundamente, auf denen ihre Projekte gegründet sind, werden sie auch fernerhin mit Kompetenz, Kraft und Improvisationsvermögen dazu beitragen, dass praxisbezogene naturwissenschaftliche und technische Wissensvermittlung den ihr zukommenden Stellenwert im Bildungskanon behält.
In diesem Sinne halten sie Kurs – bis ins Jahr 2030 und darüber hinaus!