Wie ein uraltes Märchen Kinder beflügelt und den Zusammenhalt untereinander stärkt, zeigt ein besonderes Unterrichtsprojekt der Pusteblume-Grundschule in Kooperation mit der Schulhelferin der tjfbg
Mit einer aufregenden Lesenacht fing alles an: Die Kinder aus der temporären Lerngruppe der Klassen 5 und 6 durften in der Pusteblume-Grundschule übernachten. Es wurde gespielt, gerätselt und bis spät in den Abend Geschichten vorgelesen. Selbst Therapiehund Theo durfte mit dabei sein – und als ob das nicht schon aufregend genug ist, wurde an dem Abend auch noch ein märchenhaftes Geheimnis gelüftet: „Wir werden das Märchen Sterntaler aufführen!“, verkündete Katrin Doberschütz. Die 38-Jährige ist als pädagogische Unterrichtshilfe an der Quartierschule in Marzahn-Hellersdorf für die Kids der temporären Lerngruppe zuständig.
Der Förderschwerpunkt dieser kleinen Gruppe mit insgesamt rund zehn Schülerinnen und Schülern ist die geistige Entwicklung. „Die Kinder haben ihre festen Klassen und für vier Stunden am Tag kommen sie zu uns. „Die Kinder haben ihre festen Klassen, aber für die individuelle Förderung kommen sie zu uns. Hier machen wir Unterricht ein bisschen anders“, erklärt die Pädagogin. Im Vordergrund stehen dabei die Bedürfnisse der Kinder und Fragen wie: In welchen Bereichen können wir die Kinder speziell fördern? Und wie können wir sie auf einen Alltag und mehr Selbstständigkeit vorbereiten?
Zum pädagogischen Team gehören neben Katrin Doberschütz auch die Lehrerin der temporären Lerngruppe Yoania Rücker sowie Schulhelferin Esther Finck und ihr Therapiehund Theo. Der siebenjährige Helfer auf vier Pfoten hat viele Talente, eines davon ist es, den Kindern dabei zu helfen, sich emotional zu regulieren. Seit dem vergangenen Schuljahr sind Esther Finck und ihr Hund Teil des Teams. „Meine Aufgabe ist es, die Kinder in bestimmten Situationen zu begleiten, zum Beispiel im Unterricht, aber auch im pflegerischen Bereich, etwa bei Toilettengängen“, sagt sie. Und auch bei den Vorbereitungen für das Theaterstück Sterntaler sind die beiden stets an der Seite der Kinder.
Auch wenn die Kinder bis dahin noch nie etwas vom Sterntaler-Märchen gehört haben, die Freude über das bevorstehende Theaterstück ist riesig. Die Geschichte wurde von den Gebrüdern Grimm irgendwann im 19. Jahrhundert aufgeschrieben und sie geht in etwa so: Ein armes Mädchen, das ihre Eltern verloren hat, verschenkt ihren ganzen Besitz an Bedürftige, bis sie schließlich selbst nichts mehr hat. Doch am Ende wird das Mädchen mit leuchtenden Sterntalern belohnt, die vom Himmel fallen. Warum? Weil sie, selbst in ihrer größten Not, gütig und hilfsbereit ist und viel Mitgefühl beweist. Eine vielleicht auf den ersten Blick simple Geschichte, in der jedoch viel Potenzial für pädagogische Arbeit steckt.
Klassenleiterin Yoania Rücker: „Beim Bühnenspiel werden unter anderem die Sprachentwicklung und verbale Ausdrücke gefördert. Im Rollenspiel haben die Kinder die Möglichkeit, ihre Fantasie auszuleben und sie proben Situationen für ihr Leben.“ Das Kooperationsprojekt zwischen der Pusteblume-Grundschule und der tjfbg deckt gleich mehrere Bildungsbereiche ab: Rechnen, Schreiben, Lesen und natürlich Sprechen. Aber auch Körperbewusstsein, Mut, Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen – ganzheitliches Lernen nennt Katrin Doberschütz das. Ihr ging es vor allem darum, die Kinder dabei zu unterstützen, Arbeitsabläufe zu strukturieren – denn Strukturen einhalten ist für die GE-Band-Kids eine ganz schöne Herausforderung. „Um bestimmte Strukturen und Situationen zu üben, haben wir daher gemeinsam die Einladungskarten fürs Theater gebastelt und diese auch persönlich im Sekretariat abgegeben. Für die Kinder war das was ganz Großes, denn vielen hier aus der Gruppe fällt es sehr schwer, vor anderen Menschen zu stehen und zu sprechen“, erzählt Katrin Doberschütz.
In der Auseinandersetzung mit der Geschichte und den verschiedenen Rollen fallen mehrmals die Fragen: „Wie würdet ihr euch fühlen?“ Und: „Was würdet ihr da machen?“ Neben dem Einmaleins werden hier vor allem auch Empathie und Selbstwirksamkeit geschult. Und was ist mit der Kulisse? Ja, auch die ist Teil des Projekts. Klar ist: ein Wald muss her! Aber wie? Hierbei helfen die Eltern, indem sie Pappe in verschiedenen Größen vorbeibringen. Und die Jungs legen sofort los. Zwei Tage lang schneiden sie Tannen aus Pappe aus – und stellen damit nicht nur ihre Geschicklichkeit unter Beweis, sondern auch ihr Durchhaltevermögen. Schließlich geht es hier um was.
Auch an die Sterntaler wird gedacht: Die werden in der Schulküche selbst hergestellt, gebacken aus Salzteig. Alle packen mit an. Und so wird nach und nach die Geschichte aus dem Buch ins Klassenzimmer geholt. Sie wird lebendig, beflügelt die Kinder und stärkt den Zusammenhalt untereinander. „Und nicht nur das. Wir üben auch, Konflikte zu lösen. Sie lernen, dass es okay ist, eine andere Meinung zu haben. Es gibt mehr als nur ein Richtig. Vor allem bei den Proben konnten die Kinder das gut üben. Wenn ein Kind den Bettler spielt, es aber anders macht, ist das auch in Ordnung“, sagt Katrin Doberschütz.
Rund sechs Wochen lang wurde geprobt, fast täglich im Rahmen des Unterrichts. Aber es gab auch Probeeinheiten, da wollten die Kinder nicht mitmachen. „Das ist normal. Es gibt Tage, da geht nichts und das ist auch okay. Bei uns ist jeder Tag anders. Wir greifen das auf, was die Kinder gerade anbieten. Deshalb war es mir wichtig, dass jedes Kind alle Rollen spielen kann – dann wird ihnen auch so schnell nicht langweilig“, sagt die Sterntaler-Regisseurin, die eine Meisterin im Improvisieren ist. Doch nicht nur sie, auch die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler beweisen ganz viel Flexibilität – und enorm viel Mut. Das 12-jährige Mädchen Sophia zum Beispiel verkörpert bei der Generalprobe noch einen der Bettler und eine Woche später, während der Premiere, spielt sie wie selbstverständlich die Rolle des armen Mädchens.
Oder Luca: Der Junge mit Trisomie 21 wagt sich am Tag der Aufführung als einer der Bettler nach vorne auf die Bühne und das, obwohl er im letzten Schuljahr lieber rumgealbert hat. Auch für Sulim ist es ein bedeutsamer Tag: Der Junge hatte eigentlich die Aufgabe der Technik inne, da ihm zum Sprechen der Mut fehlte – aber am Tag der Aufführung steht er plötzlich als einer der Bettler vor dem Publikum und spricht ganz behutsam seine Zeilen. Sichtlich stolz ist nicht nur seine Mutter, die im Publikum sitzt, auch die Pädagoginnen sind hin und weg. „Das ist ein Traum“, flüstert Yoania Rücker: „Seit wir die Geschichte an der Lesenacht angekündigt haben, haben die Kinder große Sprünge in ihrer Entwicklung und ihrer Persönlichkeit gemacht.“
Nach zehn Minuten ist das Stück zu Ende. Die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler verbeugen sich. „Bravo!“, ruft es aus dem Publikum. Die Eltern und Geschwister sind von der Darbietung begeistert. Mit so viel Mut hat wohl niemand gerechnet.
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